Ja. Hast du das nicht gewusst?

Wieder ein älterer Post, dieses Mal von 2015. Hab ich aber auch noch in Erinnerung und möchte den auch hier haben.

Die Odenwaldschule hat am Samstag den 25. April 2015 bekanntgegeben, dass sie den Betrieb zum Ende des Schuljahres einstellen wird. Trotz intensiver Bemühungen sei es nicht gelungen genug Geld zu besorgen um den unbefristeten Betrieb der Einrichtung zu sichern, derzeit sind zudem nur etwa 120 Schüler im Landerziehungsheim untergebracht, um profitabel zu sein bräuchte man wenigstens 200 Schüler. Das ist das Resultat aus der öffentlichen Aufarbeitung des Missbrauchsskandals, der 2010 erst so richtig bekannt wurde.

Ich hatte diesen Moment eigentlich erwartet, die Frage war nur wann es passieren würde. Und trotzdem, nachdem es nun bekanntgegeben wurde wirkt es befremdlich.

Ich war Schüler der Odenwaldschule. Von 2003 bis 2005 habe ich dort die Oberstufe besucht, mein Abitur sozusagen nachgeholt und gleichzeitig eine Ausbildung zum Informationstechnischen Assistenten absolviert. Ich war 20 Jahre alt als ich auf die Schule kam, in meiner Jugend habe ich den normalen Schulweg ziemlich verbockt und war mit anderen, für mich wichtigeren Sachen beschäftigt. Ich war froh nochmal eine Chance zu kriegen, war froh dass meine Eltern mir den Besuch der Schule ermöglichen konnten. Der Altersunterschied zu meinen Mitschülern kam nie zur Sprache, er war egal. Vielleicht hat nicht jeder darüber gesprochen, aber so ziemlich jeder dort hat seine Geschichte, sein Päckchen, also war man sich irgendwo verbunden und alles andere war unwichtig. Außerdem hatte durch die räumliche Enge ohnehin jeder mit jedem zu tun, egal in welcher Klasse man nun war. Der Wahlspruch der Odenwaldschule lautet “Werde, der du bist”, und zumindest auf mich traf das zu. Ich war stolz, ein Odenwaldschüler gewesen zu sein.

Fünf Jahre später erfuhr ich von den Missbräuchen.

Es war nur ein Artikel in einer Zeitung, ich glaube die ganze Dimension war damals noch gar nicht so offensichtlich, aber für mich war es ein kleiner Schock. Ich begann, Erlebtes in der Odenwaldschule neu zu bewerten. Erzählungen, die ich damals noch als ein wenig creepy abgetan habe wirkten auf einmal erschreckend real. Institutionen, die es zu meiner Zeit “einfach gab”, die aus bzw. wegen dieses Skandals gegründet wurden. Vorfälle, nicht sexueller, wohl aber doch übergriffiger Natur, die auch zu meiner Zeit an der Odenwaldschule passiert sind. Alles fühlte sich auf einmal anders an.

Ein Jahr später kam der Dokumentarfilm “Und wir sind nicht die Einzigen”, der die Opfer in einer ruhigen und gerade dadurch gewaltigen Art zu Wort kommen lässt. Ich besuchte die Premiere in Berlin, sah Ex-Schüler, Ex-Lehrer, ja sogar meinen damaligen Schulleiter im Publikum. Die Dimension erschlug mich, ich war sprachlos und den Tränen nahe. Die Vorstellung, dass dieser Ort, an dem ich drei so wunderbare Jahre verbrachte, für so viele Menschen die Hölle auf Erden gewesen sein muss war für mich unerträglich.

Es gibt ein Forum für Altschüler zum Austausch, zur Organisation und dergleichen. Ich habe es meist eher halbherzig verfolgt, die meisten Themen interessierten mich nicht wirklich, und das Altschülertreffen alle zwei Jahre in den Herbstferien der Odenwaldschule wurde eh über Briefe angekündigt. Aber den Link zu ebendiesem Artikel teilte ich in dem Forum, weil ich dachte, er würde auch andere interessieren. Der erste Kommentar im Thread “Ja. Hast du das nicht gewusst?”

Ja. Hast du das nicht gewusst?

Nein, ich habe das nicht gewusst. Ich wusste auch nicht dass sich bereits 1998 zwei Opfer in einem offenen Brief an die Öffentlichkeit wanden und die Sache publik machten. Dass die Polizei das Verfahren damals wegen Verjährung eingestellt hat. Dass die Schule zu dieser Zeit kein Interesse an der Aufarbeitung hatte. Ich weiß warum nichts getan wurde, man wollte wohl den Fall vermeiden, der jetzt eingetreten ist. Aber ich kann es nicht verstehen. Es war zu dieser Zeit ein weiterer Schlag ins Gesicht für jede und jeden, für den die Odenwaldschule nicht das erhoffte Paradies war. Und es machte mich wieder sprachlos, wie lapidar mir das entgegnet wurde.

Ja. Hast du das nicht gewusst?

Ich war seitdem nicht mehr auf der Odenwaldschule. Ich hatte Angst davor wie ich reagieren würde wenn ich dort auf Menschen treffe, denen ich vertraute, Schüler wie Lehrer. Die 1998 bereits auf der Schule waren als zwei Menschen den Mut aufbrachten ihre Geschichte öffentlich zu machen. Die gar in den 70ern auf der Schule waren, als es passiert ist, und weggesehen haben. Die Odenwaldschule war für mich eben nicht nur Schule sondern drei Jahre lang mein Leben. Und ich war wütend. Oh so wütend, dass ich wirklich nicht wusste ob ich sie nicht einfach am Kragen packen würde, sie anschreie, warum sie nichts getan haben, warum mir nur ein lapidarer Kommentar entgegnet wird.

Ja. Hast du das nicht gewusst?

Ich habe, glaube ich, nie konkrete Zahlen gesehen, also informierte ich mich. Man spricht von 33 Opfern in 50–100 Fällen, an denen acht bis zehn Lehrer beteiligt waren. Die Dunkelziffer wird höher sein. Ich erinnere mich wieder an den Film, erinnere mich wieder wie es nicht ein Einzeltäter war, sondern ein ganzes System zum Zweckes des Kindesmissbrauchs aufgebaut wurde. Und bin wieder sprachlos.

Ja. Hast du das nicht gewusst?

Und jetzt schließt die Odenwaldschule. Es fehlt an Geld, sehr viel Geld. Im Altschülerforum wird zwar noch diskutiert, dass man bis zum 30. Mai 2015 eine niedrige siebenstellige Summe aufbringen müsse um den Betrieb aufrechtzuerhalten, und man das über Darlehen und Spenden vielleicht noch erreiche könne, aber ich habe das Gefühl dass es nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist. Der Trägerverein der Odenwaldschule hat bei der Aufarbeitung des Skandals Fehler gemacht. Es gab einen weiteren aktuellen Fall, der von der Schule zwar völlig korrekt behandelt wurde, für die öffentliche Wahrnehmung natürlich trotzdem eine Katastrophe war. Die Odenwaldschule wäre diesen Ruf nie wieder losgeworden, sie hätte ihm wenn überhaupt nur mit einer ebenso direkten Aufklärung entgegen treten können. Aber das ist nicht passiert, und das Vertrauen ist dahin. Vielleicht geschieht ja noch das Wunder und sie kriegen die benötigte Summe zusammen. Ändern würde das aber nur wenig, und nächstes Jahr wäre man wohl wieder am selben Punkt. Und so leid es mir für die Lehrer, Mitarbeiter und vor allem die Schüler tut: ich erwische mich dabei zu denken, dass es vielleicht besser so ist.

Ich habe meinen Vater mal gefragt, ob er die Odenwaldschule auch noch für mich in Betracht gezogen hätte, wäre das alles schon 2003 bekannt gewesen.

Nein, hätte er nicht.